YaaCool: Dr. Lindschinger, welche der wichtigen Inhalte unserer Nahrung kommen tatsächlich im Körper an?
Prim. Dr. Meinrad Linschinger, Facharzt für Innere Medizin, Leiter des Instituts für Ernährung a.d. Laßnitzhöhe, Graz, Österreich: Alle Nahrungsinhaltsstoffe müssen in unserem Verdauungstrakt gespalten und zerkleinert werden, um danach in die Blutbahn und von dort aus mittels Blut zum benötigten Ort zu gelangen. Nährstoffe (Fett, Eiweiß und Kohlenhydrate) werden in einzelne Bestandteile zerlegt und liefern primär Energie (Kalorien), haben aber zusätzlich wichtige Funktionen im Organismus: So dient Eiweiß auch als (Zell)Baustoff. Vitamine und Mineralstoffe sind für einen gesunden, leistungsfähigen Körper unabdingbar. Aber nicht alles, was gekaut und geschluckt wird, kann im Körper verwertet werden.Grundvoraussetzung ist ein intaktes und funktionierendes Verdauungssystem. Ein optimales Zusammenspiel von mechanischen und chemischen "Zerlegungsvorgängen" muss gegeben sein, um Nahrungsmittel zu "verdauen" und um so an deren Inhaltsstoffe zu gelangen. Werden Nahrungsmittel zwar zerlegt, können aber aufgrund von Störungen der Darmflora im Darm nicht aufgenommen (resorbiert) werden, scheidet man diese "wirkungslos" wieder mit dem Stuhl aus. Aber auch Unverträglichkeiten (Intoleranzen) oder Allergien gegenüber bestimmten Lebensmitteln behindern oder reduzieren die Ausnutzung der Inhaltsstoffe und können sogar Verdauungsprobleme wie Blähungen oder Durchfall auslösen.
Spielt die Herkunft der Nahrung – also Pflanze oder Tier – eine Rolle?
Prim. Dr. Meinrad Linschinger: Ja. Von unserem Körper können bestimmte Nähr- und Wirkstoffe wie Eisen oder Eiweiß, die von tierischen Lebensmitteln stammen, besser aufgenommen und verwertet werden als pflanzliche.Und wie steht es um die "artgerechte" Zubereitung?
Prim. Dr. Meinrad Linschinger: Die Zubereitung ist tatsächlich sehr wichtig. Hier gilt zum Beispiel: Rohe Lebensmittel sind schwerer verdaulich als gekochte. Man weiß ja heute, was - analytisch betrachtet - in der Nahrung steckt. Aber auch, dass durch Lagerung und Zubereitung Inhaltsstoffe verändert oder gar vernichtet werden: Die im Gemüse und Obst enthaltenen Wirkstoffe (Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente) sind in dieser Hinsicht wahre "Sensibelchen" und gehen durch Lagerung und Zubereitung leicht verloren. Am wichtigsten jedoch ist der Anbau, denn durch ausgelaugte Böden können Pflanzen (Gemüse und Obst) schon mal viel weniger Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente aus dem Boden aufnehmen und somit gar nicht an uns weitergeben. Darüber hinaus sind Ernte, Lagerung und Zubereitung entscheidend für den Gehalt an Vitaminen. Besonders durch (falsche) Lagerung und Zubereitung büßen Lebensmittel ihre wertvollen Inhaltsstoffe ein: Wasserlösliche Vitamine, aber auch Mineralstoffe werden besonders durch Auslaugen und langes Kochen zerstört. Zudem reduzieren Licht, Sauerstoff und Hitze den Gehalt an Vitaminen und Mineralstoffen.Können Sie dies auch an Beispielen verdeutlichen?
Prim. Dr. Meinrad Linschinger: Gerne. Anbei eine kurze Übersicht der durchschnittlichen Verluste bei schonender Zubereitung (Quelle: GU-Nährwerttabelle, 2008/2009, D-A-C-H Referenzwerte):- 10 Prozent Vitamin E, B12
- 20 Prozent bei Vitamin A, B2, B6
- 30 Prozent bei Vitamin C
- 35 Prozent bei Folsäure
Haben Sie Tipps für einen inhaltsschonenden Umgang mit Nahrung?
Prim. Dr. Meinrad Linschinger: Die habe ich in der Tat:- Kälteempfindliches Gemüse und Obst wie Südfrüchte, Gurken und Kartoffeln sollte man in kühlen Vorratsräumen oder Kellern lagern. Der Kühlschrank ist dafür zu kalt!
- Obst und Gemüse sollte man möglichst unzerkleinert unter fließendem Wasser kurz waschen – nicht einweichen!
- Gemüse oder Obst sollte man immer erst in das bereits kochende Wasser geben und nur kernweich (bissfest) garen.
- Die Zubereitung der Lebensmittel sollte grundsätzlich erst kurz vor dem Verzehr stattfinden.
- Das Kochen mit Dampfdruckkochtopf, das Dämpfen, das Dünsten, die Zubereitung im Römertopf und in Bratfolie im Backrohr zählen zu den vitaminschonenden Garmethoden.
- Gemüse sollte in wenig Wasser im zugedeckten Topf dünsten, um ein Auslaugen der Nährstoffe zu vermeiden.
- Das Kochwasser von Gemüse lässt sich prima weiterverwenden, zum Beispiel als Basis für Suppen und Saucen.
- Ein schnelles Abkühlen nach dem Garen führt zu einem Erhalt der Vitamine – deshalb sollte unnötiges Warmhalten vermieden werden.
Wenn Lagerung und Zubereitung sich auf den Wert vieler Inhalte unserer Nahrung eher negativ auswirken, ist rohes Essen dann nicht das Gesündere für uns?
Prim. Dr. Meinrad Linschinger: Rohes Obst und Gemüse enthält sehr viele Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, welche durch zu lange oder falsche Zubereitung und auch Lagerung teilweise zerstört werden. In erster Linie sollte man Gemüse und Obst der Saison entsprechend wählen und möglichst schonend zubereiten. Sie enthalten aber auch Ballaststoffe, welche im rohen Zustand kaum oder nur teilweise im Darm aufgespalten werden können und somit schwer verdaulich sind - und den Verdauungstrakt sogar belasten. Kartoffeln, Hülsenfrüchte und auch Pilze zum Beispiel sollte man nicht roh verzehren, da sie auch giftige Stoffe enthalten.Aus einer aktuellen italienischen Studie (Miglio, Chiavaro, Visconti, Fogliano & Pellegrini, 2008) geht hervor, dass wertvolle Inhaltsstoffe wie Vitamin C, Karotinoide oder Polyphenole nicht unbedingt beim Erhitzen verloren gehen müssen. Ganz im Gegenteil: Die antioxidative Gesamtleistung stieg bei den untersuchten Karotten, Zucchini und Brokkoli, da durch das Garen die Inhaltsstoffe für den menschlichen Organismus leichter und besser zugänglich gemacht wurden.
Daher gilt: Ein gesunder Mix aus rohem, aber auch schonend zubereitetem Obst und Gemüse versorgt Sie optimal mit allen Nährstoffen, die Sie benötigen, um gesund, vital und leistungsfähig zu sein und auch zu bleiben. Also gilt beim Garen: Frisch verarbeiten und "al dente" genießen!
Jetzt frage ich mal provokativ: Lohnt sich das Essen und seine Zubereitung denn überhaupt - könnte man nicht alles Nötige über "wohldosierte" Nahrungsergänzungsmittel o.ä. zuführen?
Prim. Dr. Meinrad Linschinger: Abgesehen davon, dass das Essen ein zentrales Bedürfnis ist, es gut schmeckt und das Zelebrieren desselben auch gesellschaftlich gesehen einen sehr hohen Stellenwert einnimmt, ist diese Frage ganz schnell zu beantworten: JA, selbstverständlich lohnt sich das Essen (gerade in der heutigen schnelllebigen Gesellschaft), und NEIN, man kann nicht alles über Nahrungsergänzungsmittel zuführen.Mein Expertenteam am Institut für Ernährung und Stoffwechselerkrankungen und ich lehnen prinzipiell blinde Substituierung ohne vorherige genaue Abklärung der Defizite mittels Blutuntersuchung strikt ab. Denn auch Vitamine können überdosiert werden und sogar negative Wirkung auf unseren Gesundheitszustand haben.
Und: Viele Wirkstoffe in Lebensmitteln können künstlich noch gar nicht hergestellt werden beziehungsweise sind noch gar nicht erforscht. Und nur das Zusammenwirken einzelner Inhaltsstoffe im Lebensmittel bewirkt eine optimale Ausnutzung und Wirkung dieser im Körper. Denn wie der Name "Lebensmittel" schon sagt, sind sie "MITTEL zum LEBEN!".
Deshalb ist die von mir entwickelte Philosophie rund um Functional Eating® (YaaCool berichtete, siehe Link unten) auch so wichtig. Denn diese bedarfsangepasste Kombination der Lebensmittel holt für jeden Menschen den individuellen Nutzen für seine Gesundheit über die Ernährung heraus und passt sich so ideal an die Bedürfnisse des modernen Menschen an. Nur eine ausgewogene und bedarfsangepasste Ernährung inkludiert die richtige Auswahl an sich ergänzenden Lebensmitteln. Kurze Lagerung sowie schonende Zubereitung gewährleisten eine bedarfsdeckende Aufnahme aller Nahrungsinhaltsstoffe.