Immer mehr ältere Menschen essen Babynahrung. Laut "Stiftung Warentest" wurde im Jahr 2006 jedes vierte Gläschen von über 50-Jährigen gekauft und verzehrt. Ein Experte klärt darüber auf, wie gut Babynahrung für Senioren ist.
YaaCool fragt den Ernährungsexperten Prim. Dr. med. univ. Meinrad Lindschinger, Facharzt für Innere Medizin und Leiter des Instituts für Ernährung und Stoffwechselerkrankungen in Laßnitzhöhe bei Graz (Österreich/Steiermark) und Begründer der FE Functional-Eating®-Philosophie, ob die Babynahrung tatsächlich für Senioren geeignet ist.
YaaCool: Dr. Meinrad Lindschinger, wie bewerten Sie die Tatsache, dass ältere Menschen vermehrt zu Babynahrung von "Hipp" Alete & Co. greifen?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Ältere Menschen sind vermutlich im Glauben, dass Babynahrung gut sein muss, da speziell Säuglinge und Kleinkinder besonders hochwertige Nahrung benötigen, um gut gedeihen zu können. Dazu unterliegt die Herstellung der Kleinkind- und Säuglingsnahrung besonders strengen Richtlinien. Häufig macht Senioren auch Appetitlosigkeit zu schaffen - und auch Kau- sowie Schluckbeschwerden, Mundtrockenheit oder Probleme mit dem Zahnersatz können die Nahrungsaufnahme zusätzlich erschweren. Dann ist für viele eine solche Breinahrung ein Alternative, denn sie ist einfach zu essen. Aber: Als alleiniges Nahrungsmittel sind Babygläschen nicht geeignet.
Deckt demnach die Babynahrung den Nährstoffbedarf älterer Menschen nicht optimal ab?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Derartige Säuglingsgläser sind in ihrer Zusammensetzung zwar hochwertig, das bedeutet sie sind in ihrer Nährstoffzusammensetzung ausgewogen. Die Hauptnährstoffe
KohlenhydrateKohlenhydrate sind organische Verbindungen aus Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff, die neben Fetten und Proteinen den größten Teil der menschlichen Nahrung ausmachen.
mehr, Eiweiß und Fett stehen in einem guten Verhältnis zueinander und zusätzlich sind noch
VitamineVitamine sind für den Menschen lebenswichtige organische Stoffe, die zumeist über die Nahrung aufgenommen werden müssen.
mehr und Mineralstoffe enthalten. Sie sind jedoch klarerweise besonders auf die Bedürfnisse von Säuglingen abgestimmt, und sollten somit nicht ausschließlich zur Ernährung eines Erwachsenen dienen. Die vermeintlich ausgewogene Ernährung der Baby-Nahrung ist für Erwachsene zu wenig und verursacht eine falsche Nährstoffsicherheit. Damit steigt die Gefahr einer nicht ausreichenden Versorgung mit lebensnotwendigen Nährstoffen - verbundene Folgen könnten verminderte Leistungsfähigkeit, ein geschwächtes Immunsystem und vieles mehr sein.
Wie verändert sich der Stoffwechsel im Alter?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Im Alter verändert sich eine ganze Menge im Körper: Der Energiebedarf (Ruheumsatz) sinkt, der Stoffwechsel wird langsamer und die Verdauungstätigkeit lässt nach. Auch die Organfunktionen nehmen ab, zum Beispiel von Niere, Leber und Herz. Verstärkt wird das Ganze oftmals noch durch zu hohe Bluttfettwerte, Bluthochdruck und Diabetes mellitus (im Alter nimmt die Glucosetoleranz ab). Zudem vermindert sich die Magenfunktion und Durst, Appetit und Geschmacksempfinden können nachlassen (Geschmacksknospen bilden sich im Alter zurück, was zu verstärktem Süßen und Salzen der Speisen führt). Aber auch Depression, Demenz und Medikamenteneinnahme können die Nahrungsaufnahme negativ beeinflussen. Hinzu kommt, dass wegen einer geringeren Mobilität das Einkaufen und Kochen Schwierigkeiten bereitet.
Auf was sollten Senioren bei ihrer Ernährung also besonders achten?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Sie sollten vor allem Normalgewicht anstreben und halten - ausreichend Kohlenhydrate essen, hochwertiges Eiweiß wählen und Fett sparsam verwenden beziehungsweise auf die Fettqualität achten sowie täglich ausreichend Obst und Gemüse verzehren: Dabei sollten sie besonders auf die Verträglichkeit achten und Gemüse eventuell blanchieren, wenn der Rohgenuss Probleme bereitet. Außerdem ist wichtig, dass ausreichend und regelmäßig getrunken wird und regelmäßige Bewegung stattfindet, um einem Muskelmasseverlust entgegenzuwirken. Älteren Menschen rate ich aber vor allem dazu, hochwertiges Eiweiß zu sich zu nehmen. Da der Mensch keine Eiweißreserven besitzt, ist besonders im Alter auf eine hochwertige Eiweißzufuhr zu achten, da der Eiweißbedarf im Alter, übrigens ähnlich wie bei jungen Menschen, steigt.
Würden Sie Senioren dann vermehrt zu Vollkorn-Produkten raten?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Prinzipiell sind Vollkorn-Produkte ideal, jedoch ist im Alter aufgrund der verlangsamten Darm-Motorik besonders auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten. Deshalb ist es sinnvoll, sich im Alter an die Vollkorn-Ernährung heranzutasten, da der Darm an die erhöhte Verdauungsarbeit gewöhnt werden muss. Als Einstieg würden sich hier durchaus Mischmehle sehr gut anbieten - auch als Brei verarbeitet.
Wäre demnach der klassische Baby-Getreidebrei für eine gute Ernährung im Alter geeignet?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Auch die klassischen Breinahrungen haben eine gute Nährstoffzusammensetzung, aber eben nur als Ergänzung. Es ist darauf zu achten, dass kein Zucker zusätzlich zugesetzt wurde. Als ergänzende Nahrungsquelle sind somit auch Getreidebreie eine Alternative.
Zurück zur vorgefertigten Säuglingsnahrung. Welche Mengen davon benötigt der Organismus eines älteren Menschen, um ausreichend versorgt zu sein?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Ein 275-Gramm-Gläschen enthält durchschnittlich 200 Kilokalorien, 26 Gramm Kohlenhydrate, 9 Gramm Eiweiß und 6 Gramm Fett. Ergänzend sind Ballaststoffe enthalten. Im Vergleich dazu stecken in 50 Gramm Getreidebrei in etwa 180 Kilokalorien, 35 Gramm Kohlenhydrate, 6 Gramm Eiweiß, 1,5 Gramm Fett und 6 Gramm Ballaststoffe. Angerührt mit circa 200 Milliliter Vollmilch ergibt das rund 300 Kilokalorien. Bei einem Energiebedarf von 1.600 Kilokalorien pro Tag würde das bedeuten: Fünf Gläschen Breikost und zwei Portionen Getreidebrei mit Milch wären notwendig, um den Tagesenergiebedarf decken zu können. Ich rate aber, wie gesagt, dazu, diese Produkte lediglich als Nahrungsergänzung zu betrachten.
Viele Senioren begründen den Griff zum Gläschen damit, dass Babynahrung eine gute Alternative zu Fertiggerichten sei, da diese leicht zu essen ist und sich die Gläschen einfach öffnen lassen. Gibt es Alternativen, die Sie älteren Menschen empfehlen können?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Bei Ernährungsproblemen im Alter gibt es heutzutage sehr gute und für Senioren speziell abgestimmte Zusatznahrungen. Diese sind jedoch in eine tägliche Bilanz zu integrieren und vor allem zu individualisieren. Babynahrung ist NICHT geeignet, den gesamten Energie- und Vitaminbedarf zu decken! Unser Institut betreut zahlreiche Seniorenhäuser und –residenzen und die Analyse der Bedürfnisses der Menschen hat hierbei oberste Priorität. Vorwiegend werden ältere Personen bei uns durch eine ausgewogene bedarfsangepasste Ernährung bilanziert und wenn notwendig wird eine altersgerechte und nährstoffbilanzierte Zusatznahrung implementiert. Spezielle Nahrungen für den geriatrischen Bereich sind zum Beispiel Gemüsepürees, Getreidebreie und Trinknahrungen. Aber auch "Essen auf Rädern" oder Fertiggerichte/Tiefkühlkost sind geeignet, denn hinsichtlich der Qualität hat sich hier einiges zum Positiven verändert. Wir raten stets dazu, einfache, hochwertige Speisen selbst zuzubereiten: zum Beispiel Getreidebrei mit Obst, Obstsäfte mit Buttermilch, Cremesuppen, Gehacktes oder Fisch.
Ist die Babynahrung eine Alternative für jüngere Erwachsene, die auf Grund von Alltagsstress keine ausgewogene Ernährung haben?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Nein, die Nährstoffbedürfnisse von Babys und jüngeren Erwachsenen sind aufgrund ihres Belastungsprofils völlig unterschiedlich und müssen daher den speziellen und individuellen Bedürfnissen angepasst werden. Unser Institut für Ernährung und Stoffwechselerkrankungen in Laßnitzhöhe bei Graz hat die moderne und individuell angepasste Ernährungsphilosophie des FE Functional Eating® (YaaCool berichtete) entwickelt und arbeitet damit sehr erfolgreich. Sie stellt die Individualität des Menschen in der Ernährung und die richtige Kombination der natürlichen Lebensmittel anhand einzelner Zielgruppen in den Mittelpunkt und berücksichtigt sowohl das erhöhte Belastungsprofil und den verminderten Energiebedarf als auch die geänderten Nährstoffbedürfnisse der heutigen Zeit.
Haben Senioren mehr Mangelerscheinungen auf Grund schlechter Ernährung als jüngere Menschen?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Vitamin- und Mineralstoffmangel kommt auf Grund einseitiger Ernährung häufig vor. Dies gilt aber auch für jüngere Menschen. Das heißt, es kommt immer auf die individuelle Ernährung an. Probleme im Alter sind eher mangelnder Appetit, die physiologischen Veränderungen, Schwierigkeiten beim Essen (Kauen/Schlucken) generell aber auch Veränderungen im sozialem Umfeld. Besonders die Einsamkeit macht vielen älteren Menschen zu schaffen und raubt ihnen den Appetit.
Würden Sie älteren Menschen, die sich nicht optimal selbst ernähren können, zu Nahrungsergänzungsmitteln raten?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Ja, aber nur nach Rücksprache mit dem Arzt, da diese individuell abgestimmt gehören.
Kann man zusammenfassend also sagen, dass Babynahrung gut für ältere Menschen ist, aber nicht als Vollkost ausreicht ?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Babynahrung kann eine gute und praktische Ergänzung sein – Betonung auf Ergänzung - sollte aber nicht den Hauptanteil des täglichen Speiseplans ausmachen. Denn wer sich nur von weicher beziehungsweise breiiger Kost ernährt, läuft Gefahr, dass sich Kieferknochen und -muskulatur aufgrund des geringen Gebrauchs zurückbilden (Degeneration). So kann es zu dem typisch ‚greisenhaften‘ Gesichtsausdruck kommen. Deshalb sollten auch Senioren Nahrung bevorzugen, die ausgiebig gekaut werden muss! Sie sollten über die Wichtigkeit einer gesunden Ernährung im Alter Bescheid wissen und entsprechend nährstoffdichte Lebensmittel bevorzugen, um den hohen Nährstoff- aber verminderten Energiebedarf decken zu können. Dafür eignet sich die Ernährungsphilosophie des FE Functional Eating® optimal, da hier die Kombination der Lebensmittel zur optimalen individuellen Deckung der Nährstoffe im Vordergrund steht und den geänderten Bedürfnissen des modernen Menschen entspricht. Darüber hinaus ist auch eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr und regelmäßige körperliche Aktivität wesentlich für die Erhaltung der Lebensqualität. In jedem Fall wichtig ist, dass das Essen schmeckt! Denn was schmeckt, wird auch gerne gegessen!
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger, wir bedanken uns herzlich für das Interview!