Herr Dr. Lindschinger, was hat es mit Sauerstoff und Freien Radikalen auf sich?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger, Ärztlicher Leiter des Instituts für Ernährung und Stoffwechselerkrankungen auf der Laßnitzhöhe bei Graz, Österreich, und Facharzt für Innere Medizin: Sauerstoff ist unser Lebenselexier, aber leider auch der Stoff, aus dem während des Atmungsprozesses gefährliche Zellgifte (die sogenannten Freien Radikale) entstehen. Sauerstoff kann demnach in bestimmten Formen unsere Körperzellen angreifen, beschädigen und ganz zerstören. Außerdem gelangen Freie Radikale von außen in den Körper beziehungsweise wird ihre Entstehung durch Belastungen aus der Umwelt wie UV-Strahlung begünstigt.Sind Freie Radikale denn ausschließlich negativ zu beurteilen?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Nein. Es muss in diesem Zusammenhang angemerkt werden, dass Freie Radikale, auch Oxidantien genannt, für den Menschen notwendig sind, und dass ein Fehlen dieser unter anderem mit Infektionen und Fehlleistungen im Stoffwechsel verbunden ist. Das heißt, dass wir bestrebt sein müssen, ein Gleichgewicht zwischen den so genannten (Pro)Oxidantien und den Antioxidantien (sogenannte Radikalfänger) zu finden.In dem Buch "Iss dich schön, klug und sexy mit Functional Eating®" (YaaCool berichtete, siehe Link unten), das Sie mit der Journalistin Birte Karalus geschrieben haben, beziffern Sie die Angriffe Freier Radikale auf jede unserer Milliarden Körperzellen mit etwa 10.000 pro Tag. Was können wir dem entgegensetzen?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Antioxidantien, die wir über die Nahrung aufnehmen müssen. Denn unser Körper ist nicht in der Lage, sie selbst zu bilden. Wichtige antioxidativ wirkende Inhalte unserer Lebensmittel sind:- die Vitamine C und E sowie das Provitamin A (Betacarotin)
- über den chemischen Umweg der Enzyme die Spurenelemente Selen, Zink, Kupfer und Eisen
- die Vitamine B2 und B3
- sowie sekundäre Pflanzenstoffe wie Flavonoide
Was kann man neben einer ausgewogenen Ernährung noch tun, um einer Überzahl an Oxidantien vorzubeugen?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Zur besten Vorsorge von sognanntem oxidativen Stress, also mehr zerstörerischen oxidativen Prozessen als der Körper verkraften kann, zählen:- die schon erwähnte ausgewogene Ernährung
- ausreichend Bewegung
- Vermeiden von Umweltgiften wie Zigarettenrauch, Abgase etc.
- optimales Stressmanagement
Was veranlasst den Körper, Freie Radikale zu bilden?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Verschärft wird die Situation der vermehrten Entstehung Freier Radikale im menschlichen Organismus durch die veränderte Versorgungssituation in der Bevölkerung und die damit verbundene verminderte Nährstoffdichte unserer Nahrung (notwendige Amino- und Fettsäuren, Vitamine, Spurenelemente, Mineralstoffe und anderes).Verminderte Nährstoffdichte? Enthält unsere Nahrung auch zu wenige Antioxidantien?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Die Ursache der Verminderung der für uns so wichtigen Vitalstoffe liegt vor allem im ständigen quantitativen Druck der Produktion in der Landwirtschaft - Qualität kostet (leider) Geld. So nimmt die Außer-Haus-Verpflegung wie Fast-Food-Ketten, Betriebsverpflegung, Tagesheimstätten und die klassische Gemeinschaftsverpflegung deutlich zu - und hat in der Bedeutung der Vorsorgemedizin bereits die Haushaltsküche überflügelt.Dies hat wiederum zur Folge, dass sehr viele Menschen aufgrund dieser Situation von Anfang an nicht das nötige nährstoffreiche Rüstzeug haben, um im Kampf gegen Freie Radikale zu bestehen.
Äußert sich dieser Vitalstoffmangel beziehungsweise das Ungleichgewicht zugunsten der Freien Radikale in unserem Organismus in konkreten Beschwerden?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Ja. Dies äußert sich unter anderem in folgende Erkrankungen:- Infektanfälligkeit
- Gelenksbeschwerden
- Neigung zur Atopie
- Probleme im Magen-Darm Trakt
- neurodegenerative Erkrankungen
Sie führen hier Erkrankungen an, die ich bisher noch nicht im Zusammenhang mit Freien Radikalen und Radikalfängern gesehen habe?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Sehr viele dieser Erkrankungen wurden mangels einer sauberen Diagnostik dem Bereich der psychosomatischen und psychovegetativen Erkrankungen zugeordnet und damit einer schulmedizinischen Behandlung weitgehend entzogen. Die Folgen können schwere gesundheitliche Schäden sein.Lässt sich dieser Zusammenhang auch messtechnisch nachweisen?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Das Institut für Ernährung und Stoffwechselerkrankungen verfügt über modernste medizinische Methoden, mehrjährige Erfahrung im Stoffwechselbereich sowie in der Wissenschaft und hat bereits routinemäßig tausende Patienten auf ihre Freien Radikale hin analysiert. Unabhängig der Tatsache, dass Stress, Überbelastung, Angst und Depression und die oben genannten Erkrankungen in ihrer somatischen Auswirkung Freie Radikale erzeugen, ist es seit kurzem möglich, diesen "eingebildeten Erkrankungen" ein labormedizinisches Korrelat auf molekularer Ebene zuzuordnen und den betroffen Menschen mit gezielten Maßnahmen der Orthomolekular- und der Ernährungsmedizin zu helfen beziehungsweise eine deutliche Verbesserung der Beschwerdesymptomatik zu bewirken.Methoden zur gezielten Untersuchung Oxidativen Stresses, die das Institut für Ernährung und Stoffwechselerkrankungen empfiehlt:
TAS | Hier kann der sogenannte Totale-Antioxidantien-Status (TAS) bestimmt werden. |
Pox-Act | Pox-Act bedeutet Peroxid-Aktivität. Peroxide, der bekannteste Vertreter ist wohl Wasserstoffperoxid, spielen sowohl bei der Abwehr von Mikroorganismen durch Immunzellen als auch bei oxidativer Veränderung von fetttransportierenden Eiweißen (Lipoproteinen) und Zellmembranen eine entscheidende Rolle. |
oLAb | Die Abkürzung steht für Antikörper gegen oxidativ modifiziertes Low Density Lipoprotein (LDL , "schlechtes Cholesterin"). Diese Antikörper sind nach heutigem Wissensstand ein körpereigener Schutzmechanismus gegen Zell- und Membranschäden, die durch die Wirkung Freier Radikale hervorgerufen werden. |
ARS | Der Parameter Anti Radikal Scavenger (ARS) stellt die so genannte enzymatische antioxidative Kapazität des Körpers dar. Es handelt sich dabei um die Gesamtmenge von Enzymen, die in der Lage sind, die freien Radikale im Köper abzufangen und ihnen entgegen zu wirken. |
Herr Dr. Lindschinger, lassen Sie uns bitte etwas tiefer ins Wesen eines Freien Radikals einsteigen!
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Gerne. Freie Radikale, wie sie in der Atmungskette entstehen, aber auch Radikale aus der Umwelt sind chemisch betrachtet instabile Moleküle mit einem oder mehreren ungepaarten Elektronen. Dies macht sie sehr reaktionsfreudig, weshalb sie ständig bestrebt sind, Elektronen von anderen Quellen zu entziehen, wodurch das Gebermolekül (sogenanntes Donormolekül) destabilisiert wird.Gibt es verschiedene Arten solcher reaktionsfreudigen Moleküle?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Allerdings. Die mengenmäßig häufigsten im Körper entstehenden Freien Radikale sind:- der Singletsauerstoff (O-)
- das Superoxid Anion (O2-)
- Wasserstoffperoxid (H2O2)
- und das Hydroxylradikal (OH)
Und welche Schäden können diese Freien Radikale in unserem Stoffwechsel anrichten?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Letztgenanntes Hydroxylradikal führt beispielsweise zu einer extensiven Peroxidation mehrfach ungesättigter Fettsäuren (sogenannte PUFA’s) wie Linolensäure, welche aufgrund ihrer Doppelbindungen besonders gefährdet sind. Dies hat zur Folge, dass Menschen mit Störungen des Fettstoffwechsels besonders anfällig in Richtung der Arteriosklerose und damit verbunden anfällig für Herzinfarkt oder Schlaganfall sind, und dass hier besonders auf die Ursachenbekämpfung Wert gelegt werden muss.Weitere Schäden bewirken diese Radikale durch direkte Protein- oder Enzym-Inaktivierung, Membranschäden infolge der Lipid-Peroxidation und schließlich durch DNA-Schäden (Erbsubstanzschäden, Krebs).
Die Lipid-Peroxidation spielt demnach eine zentrale Rolle. Was genau bedeutet der Vorgang?
Prim. Dr. Meinrad Lindschinger: Sie wird definiert als ein Ungleichgewicht zwischen (Pro)Oxidantien und Antioxidantien. Wenn mehr (Pro)Oxidantien als Antioxidantien vorhanden sind, gibt es keinen weiteren Schutz, was letztlich mit dem Angriff der Freien Radikale auf mehrfach ungesättigte Fettsäuren einhergeht.Die Lipid-Peroxidation wird in drei Teilbereiche untergliedert:
Initiation | Im Verlauf der Initiation attackiert das Hydroxylradikal die ungesättigten Fettsäuren und spaltet ein Wasserstoffatom ab, wodurch ein Fettsäureradikal (L) gebildet wird. Dieses reagiert seinerseits mit Sauerstoff zum Peroxidradikal (LOO). |
Propagation | Bei der Propagation reagieren diese Peroxidradikale mit anderen ungesättigten Fettsäuren und bilden dabei Lipidhydroperoxide (LOOH), wodurch eine Kettenreaktion ausgelöst wird. |
Termination | Bei der Termination reagieren zwei Radikale miteinander, wodurch die Kettenreaktion zum Stillstand kommt. |
Bei der Aufspaltung der Lipidhydroperoxide entstehen Sekundärprodukte wie Aldehyde, Ketone oder Alkohole. Einige dieser Aldehyde sind langlebig, weshalb sie im Unterschied zu den sehr reaktionsfreudigen Freien Radikalen auch fernab ihres Bildungsortes zu Schäden führen können. Das ist der Grund, warum sie auch als "second toxic messenger" bezeichnet werden. Aldehyde reagieren ihrerseits mit Proteinen (zum Beispiel Membranproteinen oder mit dem ApoB im LDL), wodurch diese verändert werden und Epitope für Antikörper bilden. Die Autoantikörper gegen oxidiertes LDL stellen nach heutigem Wissensstand die letzte Barriere gegen derartige toxische Stoffe dar, weshalb ihr Titer im Verlauf von radikalvermittelten Prozessen (zum Beispiel Sepsis oder Myokardinfarkt) auch deutlich absinkt.